
Garbatella: Die schillernde Geschichte des römischen Viertels
Seit sechs Monaten ist Giorgia Meloni italienische Ministerpräsidentin. Aufgewachsen ist die umstrittene Politikerin in Garbatella, im Süden Roms. Das Arbeiterquartier hat eine schillernde Geschichte: Es entstand in der Zeit des Faschismus – und gilt als linke Hochburg.
Text: Damien Leaf
Foto: Das Teatro Palladium (1926/27, Innocenzo Sabbatini) gehört heute zur Universität Roma Tre. © Creative Commons/Sergio D’Afflitto
»Ich stamme aus Garbatella, manchmal kommt diese Seele durch«, hat Giorgia Meloni, seit Oktober 2022 Ministerpräsidentin von Italien, einmal gesagt. Damit wollte die 45-Jährige ihren oft unbeherrschten, rüpeligen Ton erklären. Garbatella ist ein landesweit bekanntes Arbeiterviertel im Süden der italienischen Hauptstadt Rom. Die Politikerin wuchs dort ab ihrem dritten Lebensjahr auf. Dass Meloni, Vorsitzende der rechtsnationalen Fratelli d’Italia – manchmal wird die Partei auch als postfaschistisch klassifiziert, weil ihre Vorgängerorganisationen offen auf den Faschismus Bezug nahmen –, ausgerechnet aus diesem Stadtteil kommt, sei »eine Ironie der Geschichte, aber zugleich schlüssig«, schreibt die Süddeutsche Zeitung.
Tatsächlich ist die Entstehung des Quartiers eng mit dem diktatorischen Regime von Benito Mussolini verbunden. 1920 gegründet, wurde Garbatella zunächst nach den Prinzipien der Gartenstadtbewegung gestaltet: niedrige Häuser und viel Platz, um zum Beispiel Gemüse und Obst anzubauen. Unter den Faschisten, die 1922 die Macht übernahmen, änderte sich das: Sie setzten stark auf den Bau von Wohnungen. Dieser war nicht zuletzt nötig geworden, weil Mussolini auf der Suche nach antiker imperialer Größe die Altstadt Roms freilegen ließ und viele Leute dadurch ihre Bleibe verloren.
Garbatella, gelegen in Nachbarschaft zu den Industriebetrieben von Ostiense, wurde nun verdichtet: Große Wohnbauten entstanden, aber auch Schulen, Theater, eine Badeanstalt. Die Abrissbetroffenen aus der Altstadt zogen Ende der Zwanzigerjahre in »Alberghi suburbani«. Ursprünglich nur als Übergangslösung mit gemeinsamen Küchen, Speisesälen und Kindereinrichtungen gedacht, wurden ihre Innenräume schließlich zu abgeschlossenen Wohneinheiten umgestaltet. Diese eindrucksvollen, in unterschiedlichen Farben gehaltenen Komplexe nach Entwürfen von Innocenzo Sabbatini (1891–1983) sind die bekanntesten Gebäude des Viertels und in ihrem Stil schwer einzuordnen.
Charakteristisch für Garbatella ist seine bauliche und städtebauliche Vielfalt. »In der ersten Hälfte der faschistischen Herrschaft hatten die Architekten relativ viel Freiraum, für diese Zeit sind auch regionale Stile prägend«, sagt Sozialwissenschaftler und Stadtplaner Harald Bodenschatz, dessen Standardwerk Städtebau für Mussolini nun in einer erweiterten Neuauflage erschienen ist. »Unser Bild faschistischer Architektur ist von der späten Phase mit seiner nationalen Einheitsarchitektur geprägt.«
Das bauliche Erbe des Viertels führte jedoch nicht dazu, dass dieses zu einer Hochburg der Rechten wurde. Im Gegenteil. Lange galt Garbatella als ausgesprochen links. Melonis politische Ideen – mit 15 Jahren trat sie der Jugendorganisation des neofaschistischen Movimento Sociale Italiano bei – entstanden wohl in Abgrenzung zu ihrer Umgebung, in der sie eine Kindheit und Jugend mit Härten durchlebte. Trotzdem spricht sie mit Nostalgie von dem Quartier, vielleicht auch zur Selbstinszenierung. Garbatella dominieren bis heute Sozialwohnungen. »Zugleich gibt es Anzeichen einer Gentrifizierung«, sagt Bodenschatz. Der Guardian wählte es gar zu einem der »zehn coolsten Viertel Europas«.