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"Die Milieus, die Berlins innere Stadtviertel geprägt haben, werden in den nächsten zehn bis 20 Jahren von dort verschwinden"

Die deutsche Hauptstadt in ihrer jetzigen Form feierte gerade 100. Geburtstag – anlässlich der großen Jubiläums-Ausstellung ist bei DOM publishers das Buch Unvollendete Metropole erschienen, das einen Blick zurück nach vorn wirft. Denn heute, nach Krieg und Teilung, boomt der Berliner Ballungsraum wieder. Was lässt sich aus der Geschichte lernen? Wie sollte die Stadt mit dem neuen Wachstum umgehen? Wir haben zwei Experten und Wahlberliner zusammengebracht: den Sozialwissenschaftler Harald Bodenschatz und den Architekturtheoretiker Philipp Oswalt. Ein Gespräch über den Dauerwaldvertrag von 1915, die Mietpreisbremse und schwarze BMWs in den Straßen.

 

Interview: Björn Rosen, Anselm Weyer

 

Herr Bodenschatz, am 1. Oktober 1920 entstand »Groß-Berlin«: Vormals eigenständige Städte wie Charlottenburg und Lichtenberg wurden damals eingemeindet. Sie sind einer der Kuratoren der großen Jubiläums-Ausstellung – sie trägt den Namen »Unvollendete Metropole«. Was muss denn an Berlin noch vollendet werden?

BODENSCHATZ. Natürlich ist jede Großstadt in permanenter Veränderung begriffen. Ich denke, für Berlin gilt das ganz besonders. Aufgrund seiner Geschichte, aber auch der Herausforderungen, vor denen wir jetzt stehen: Die Stadt wächst – in die Fläche hinein, weit über ihre Grenzen hinaus. 1920 führten zwei wichtige Gründe zur Schaffung von Groß-Berlin. Zum einen wollte man das Chaos beenden, das durch die kommunale Konkurrenz bei der Infrastruktur entstanden war, zum anderen einen Ausgleich zwischen reichen und armen Kommunen finden. Dabei gab es einen Geburtsfehler, der bis heute nachwirkt: Die Kooperation mit Brandenburg wurde zwar angesprochen, aber nie vertieft. 

Plädieren Sie für eine Länderfusion, wie sie bei der Volksabstimmung 1996 an Brandenburg scheiterte?

BODENSCHATZ. Die Brandenburger hatten damals den Eindruck, dass sie in einem gemeinsamen Bundesland nicht mehr genug zu sagen hätten, weil ihr Anteil an der Einwohnerzahl unter 50 Prozent liegen würde. Ich stamme aus München, und dass es hier zwei Länder gibt, die angeblich nichts miteinander zu tun haben, ist aus bayerischer Sicht vollkommen absurd. Jetzt in der Coronakrise waren alle ganz begeistert, als anfangs die Brandenburger Gesundheitsministerin mit ihrer Berliner Amtskollegin telefonierte – also, das kann’s doch wirklich nicht sein! Wenn eine Fusion nicht gangbar ist, dann brauchen wir zumindest viel stabilere Formen der Kooperation, zum Beispiel einen Regionalrat.

OSWALT. Ich stimme zu. Allerdings weiß man aus der Erfahrung mit Regionalverbänden auf kleinerer Ebene, dass so etwas nur sehr begrenzt funktioniert. Umso eindrucksvoller ist, was 1920 geleistet wurde! Würde man heute etwas Ähnliches vorschlagen, würde man für verrückt erklärt. Eine solch radikale strukturelle Veränderung war nur in der politisch instabilen Übergangsphase nach Krieg und Revolution möglich. In seiner Relevanz für die Stadtentwicklung kann man diesen Schritt gar nicht hoch genug einschätzen. Ein zweiter Punkt, damit zusammenhängend: Damals hat man fünf große Forstgebiete, den Grunewald, den Tegeler, Spandauer, Köpenicker und Grünauer Forst, aufgekauft. Sie wurden verstaatlicht, um sie von künftiger Bebauung freizuhalten …  

BODENSCHATZ. … der sogenannte Dauerwaldvertrag wurde sogar schon 1915 geschlossen. Auch beim Wettbewerb Groß-Berlin von 1910 spielte das städtische Grün eine zentrale Rolle.

OSWALT. Davon zehren wir und auch die künftigen Generationen ganz substanziell. Die großzügigen, stadtnahen Grünräume gehören zu den herausragenden Qualitäten Berlins. Eine Glanzleistung der Stadtplanung im 20. Jahrhundert.

 

 

UNSERE GESPRÄCHSPARTNER 

HARALD BODENSCHATZ, Jahrgang 1946, im Bild links zu sehen, ist Sozialwissenschaftler und Stadtplaner. Der gebürtige Münchner war viele Jahre Professor für Planungs- und Architektursoziologie an der TU Berlin. Er gehört zu den Machern der Ausstellung »Unvollendete Metropole. 100 Jahre Städtebau für (Groß-)Berlin« im Kronprinzenpalais Unter den Linden; derzeit ist diese Corona-bedingt nur online zu sehen. Bei DOM publishers veröffentlichte Bodenschatz unter anderem Städtebau in Berlin. Schreckbild und Vorbild für Europa sowie zuletzt Städtebau unter Salazar.

 

PHILIPP OSWALT, Jahrgang 1964, ist Architekt und Professor für Architekturtheorie und Entwerfen  an der Universität Kassel. Nach Berlin, wo er heute lebt, kam der gebürtige Frankfurter das erste Mal zum Studium. Oswalt hat in Architekturdebatten immer wieder streitbar Position bezogen. So wandte er sich unter anderem gegen den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses. Bei DOM publishers veröffentlichte Oswalt zuletzt Berlin. City Without Form.

 

 

Herr Oswalt, durch Krieg und Teilung war Berlin auch in anderer Hinsicht lange eine Stadt der Freiräume. Doch Brachen, Baulücken und vernachlässigte Gebäude, in denen sich die legendäre Party- und Kulturszene entwickelte, verschwinden. Sie haben sich seit den Neunzigerjahren immer wieder in Berliner Architekturdebatten zu Wort gemeldet. Sind die Lücken aus Ihrer Sicht klug geschlossen worden?

OSWALT. Pauschal lässt sich das nicht beantworten, die Architekturqualität ist sehr heterogen. Ohne nos­talgisch werden zu wollen: Das Zubauen der Leerstellen ist natürlich auch ein Verlust. Brachen haben neuen Akteuren die Möglichkeit gegeben, Stadt mitzugestalten. Nur kann und sollte man solche Biotope nicht dauerhaft musealisieren. Eine Metropole befindet sich, wie erwähnt, im ständigen Umbruch. Für mich stellt sich die Frage, wie man diese räumliche Qualität fortführen und eine gewisse Durchlässigkeit für Stadtgestaltung – die Demokratisierung urbaner Prozesse – auf neue Weise schaffen kann. Und wie man bei Erhöhung der Dichte solche Freiräume auch weiterhin bereitstellen kann. Ein positives Beispiel ist das »Haus der Statistik« am Alexanderplatz.

Der DDR-Gebäudekomplex sollte abgerissen, das Grundstück verkauft werden. Künstler besetzten das Haus. Inzwischen hat der Bezirk Mitte mit verschiedenen Initiativen einen Plan für die Sanierung und eine gemischte Nutzung entwickelt.

BODENSCHATZ. Ein riesiges Gelände in äußerst zentraler Lage – in Paris oder London unvorstellbar! Ich finde auch positiv, dass in den vergangenen Jahrzehnten zahllose Parks entstanden sind. Es gibt eine regelrechte neue Parklust. Man muss aufpassen, dass die Debatte über diese Fragen anhält. Nur so können einzelne Projekte wie das »Haus der Statistik« überhaupt gelingen.  

OSWALT. Alternative Projektentwicklungen wie Exrotaprint, das »Spreefeld« und das Areal um die ehemalige Blumengroßmarkthalle mit Genossenschaftsmodellen oder auch die Baugruppen wären andere Beispiele. Konzeptuell bedeutsam, aber im Verhältnis zum Immobiliengeschehen insgesamt quantitativ bislang eher Marginalien. Es hat sehr lange gebraucht, bis das offizielle Berlin kapiert hat, was es mit dem, wofür die Stadt in den Neunzigerjahren so beliebt war, auf sich hatte. Erst rund 15 Jahre nach dem Mauerfall begann die Politik, sich diesen Prozessen zu öffnen.

 

»Im internationalen Vergleich ist Berlins Entwicklung nicht besonders dynamisch. Wir sind hier eine unheimliche Behäbigkeit gewohnt.« – Philipp Oswalt 

 

Ein populärer Freiraum ist das Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof. Nach einem Volksentscheid bleibt die innerstädtische Fläche – so groß wie 450 Fußballfelder – unbebaut. Wäre es nicht sinnvoller, dort Wohnungen zu bauen? Berlins Einwohnerzahl steigt seit Jahren, und bis 2030 soll eine weitere Viertelmillion Menschen hinzukommen.

BODENSCHATZ. Einen Volksentscheid in dieser Form abzuhalten – mit einem dermaßen unflexiblen Ergebnis »bebauen« oder »nicht bebauen« –, ist grundsätzlich wenig sinnvoll. Ich finde es auch falsch, dort überhaupt keine Gebäude zu errichten. Über kurz oder lang wird man die Entscheidung sicher revidieren. Hoffentlich auf gute Weise.

OSWALT. Zum einen möchte ich ergänzen: Im internationalen Vergleich ist Berlins Entwicklung nicht besonders dynamisch. Wir sind hier eine unheimliche Behäbigkeit gewohnt. Die heutige Einwohnerzahl von vier Millionen war schon 1910 erreicht. Seitdem hat Berlin viel erlebt, aber bevölkerungsmäßig ist es stagniert. Zum anderen hat ein gutes Dutzend anderer deutscher Großstädte ebenfalls mit Wohnraummangel zu kämpfen. Das liegt auch daran, dass es inzwischen mehr Haushalte und mehr Wohnfläche pro Kopf gibt.

Sie selbst wohnen zentral, im Stadtteil Schöneberg. Wie erleben Sie die Veränderungen?

OSWALT. Wenn Freunde aus dem Kiez eine neue Wohnung suchen, weil sie sich getrennt oder Kinder bekommen haben, dann finden sie hier keine bezahlbare mehr. Gleichzeitig sieht man SUVs oder schwarze BMWs in den Straßen, die gab es früher nicht. Die Milieus, die Berlins innere Stadtviertel geprägt haben, werden in den nächsten zehn bis 20 Jahren von dort verschwinden. Mit Gentrifizierung hat das übrigens wenig zu tun, ich finde es problematisch, dass immer dieser Begriff verwendet wird. Es handelt sich um Globalisierungsphänomene und Folgewirkungen der Finanzmarktkrise von 2008. Das Kapital kommt von überallher, manchmal handelt es sich um Steuerspar- und Geldwäschemodelle. Das Preisniveau in Berlin ist im Vergleich zu anderen internationalen Metropolen noch immer niedrig, und die Investoren können davon ausgehen, dass das in der Hauptstadt eines wirtschaftlich starken Staates wie Deutschland nicht so bleiben wird. Eine sichere Anlage.

Was sollte die Politik tun?

OSWALT. Naheliegend wäre, den Zufluss von ausländischem Geld zu limitieren. Natürlich nicht, weil man gegen Ausländer ist, sondern um den eigentlichen Nutzern mehr Kontrolle über das Geschehen vor Ort zu geben. Länder wie Kanada, Polen oder Dänemark machen das schon so. Zudem bin ich dafür, Grund und Boden nach Möglichkeit dem Handel zu entziehen und Projekte in Erbpacht zu entwickeln. Das ist ein wirksames Instrument, um spekulatives Geschehen auszubremsen.

 

»Man sollte vorsichtig sein, zu glauben, dass nur die Innenstadt ein guter Standort ist und jeder, der nach draußen zieht, ein bemitleidenswertes Opfer.« – Harald Bodenschatz

 

Für den Moment hat das Land Berlin mit einer Mietpreisbremse reagiert. Kritiker beklagen, es handele sich um ein kontraproduktives Instrument, weil es die Schaffung neuen Wohnraums unattraktiv mache.

BODENSCHATZ. Die Mietpreisbindung ist eine Antwort auf soziale Bewegungen, die viel radikalere Forderungen gestellt haben. Zu diesen gehörte etwa die Enteignung von Immobilienunternehmen wie »Deutsche Wohnen« – wofür es laut einer Umfrage sogar große Akzeptanz in der Bevölkerung gab. Man sollte zur Kenntnis nehmen, dass die Situation für einen erheblichen Teil der Bewohner wirklich dramatisch ist. Und durch Neubauten wird man die Bestandsmieten nur begrenzt beeinflussen können. Zentrales Problem ist das Abschmelzen des Bestands an Sozialwohnungen. Kluge Köpfe haben das schon vor 20 Jahren angesprochen, als wir noch 100.000 Wohnungen Leerstand hatten. Die Entwicklung war absehbar. Die Politik hoffte einfach darauf, dass die Stadt nicht mehr wachsen würde.

Inzwischen findet eine starke Verdrängung an den Stadtrand und darüber hinaus statt.

BODENSCHATZ. Man sollte vorsichtig sein, zu glauben, dass nur die Innenstadt ein guter Standort ist und jeder, der nach draußen zieht, ein bemitleidenswertes Opfer. Ein großer Teil der Leute will gar nicht unbedingt in der Innenstadt leben. Worauf es allerdings ankommt, ist, das Leben in der Außenstadt und in den Umlandgemeinden zu verbessern, zum Beispiel durch noch mehr Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr.

OSWALT. Nach Einführung der U-Bahn gab es in diesem Bereich fast 100 Jahre kaum Innovationen. Meint man es mit der Verkehrswende ernst, braucht es jetzt radikale Entwicklungen – gerade, wenn man die Stadt größer, einschließlich des Umlands denken will. Insofern finde ich die Diskussion um große Fahrradtrassen nach dem Vorbild etwa Kopenhagens richtig. Aber in einer weit ausgedehnten Stadt wie Berlin mit vier Millionen Einwohnern muss es auch darum gehen, wie der öffentliche Nahverkehr helfen kann, schnell große Entfernungen zu überwinden. In New York gibt es zum Beispiel »Rapid Trains«, die nur alle paar Stationen halten.

BODENSCHATZ. Es ist ein Unding, wie wenig in den schienengebundenen Nahverkehr investiert wird, gerade wenn man das mit einer Stadt wie Moskau oder asiatischen Metropolen vergleicht. Es reicht sogar schon ein Blick nach Paris: Dort werden derzeit neue bahnbezogene Verkehrslinien für die Stadtregion entwickelt …

… als Teil der großen Reform des Ballungsraums …  

BODENSCHATZ. … und an den Haltestellen stampft man ganze Orte aus dem Boden. In Berlin dagegen dauert es ewig, bis mal irgendwo eine Straßenbahnlinie um einen Kilometer verlängert ist. Wir bräuchten da wirklich einen enormen Schub vorwärts.

 

»Es ist ein Unding, wie wenig in den schienengebundenen Nahverkehr investiert wird, gerade wenn man das mit einer Stadt wie Moskau vergleicht.« – Harald Bodenschatz

 

Wie lassen sich Großsiedlungen am Stadtrand attraktiver gestalten, wie vermeidet man Ghettoisierung?

OSWALT. Die Voraussetzungen dafür sind in Berlin recht gut. Im Westteil der Stadt konnte man während der Teilung sowieso nur innerhalb der Mauer bauen, aber auch im Osten waren die Großsiedlungen immer Ergänzung an den Stadtkörper. Ganz im Gegensatz etwa zu den französischen Banlieues, die irgendwo weit draußen liegen. Berlin hat in den vergangenen 150 Jahren eine erstaunliche Kompaktheit entwickelt. Es wäre wünschenswert, dies fortzuführen. Ein wichtiger Punkt ist die Heterogenität der Bauweise. In solchen Lagen kann etwa verdichtete Flach- mit Hochhausbebauung kombiniert werden. Da gibt es Ideen der klassischen Avantgarde, die man wieder aufgreifen sollte.

BODENSCHATZ. Auf alle Fälle darf man die Großsiedlungen nie als Inseln behandeln, sondern muss sie maximal mit den Wohnanlagen der Umgebung vernetzen. Zum Beispiel in den Schulen, dort sollten Menschen aus dem ganzen Bezirk zusammenkommen. Auch die Belegungspolitik spielt eine große Rolle. Im Moment geht sie meines Erachtens in eine falsche Richtung: Die landeseigenen Wohnungsgesellschaften werden unter Druck gesetzt, dort mehr Bedürftige unterzubringen. Doch es darf nicht sein, dass man all diejenigen, die keine Chance mehr haben, in diesen Siedlungen konzentriert. Leider erleben wir derzeit auch eine ähnliche Situation, wie es sie vor 1920 gab: Die Umlandgemeinden wollen natürlich auf keinen Fall, dass ärmere Bevölkerung in ihre Wohnanlagen eindringt.

Herr Bodenschatz, wie stark ähneln die heutigen Debatten jenen von damals?

BODENSCHATZ. All die aktuellen Fragen standen auch um 1920 auf der Tagesordnung. Bezahlbarer Wohnraum, Verkehr – damals dachte man freilich stark in Richtung autogerechten Ausbau. Unter Gustav Böß, in den Zwanzigerjahren Oberbürgermeister, waren sogar Hochstraßen nach US-Vorbild im Gespräch. Der Werkwohnungsbau, der in Berlin nie eine besondere Tradition hatte, spielte punktuell eine große Rolle. Ich denke, wenn sich das Wohnungsproblem weiter verschärft, müssen sich die Firmen auch heute wieder Gedanken machen, wie sie ihre Leute unterbringen.

 

»Wir haben es mit der komischen Situation zu tun, dass es sich fast um eine Schlafstadt handelt. Berlin zieht ein bestimmtes Milieu an, das gern hier lebt, aber zum Arbeiten nach draußen pendelt: nach Hamburg, Leipzig, Frankfurt.« – Philipp Oswalt 

 

Herr Oswalt, während der Coronakrise haben sehr viele Firmen auf Heimarbeit umgestellt, und das funktioniert erstaunlich gut. Warum sollte man in Zeiten der Digitalisierung überhaupt in einer zunehmend teuren Metropole wie Berlin leben?

OSWALT. Dass es die Leute in die großen Städte zieht und sich die peripheren, ländlichen Regionen entvölkern, ist ein langfristiges, globales Phänomen. Ich glaube nicht, dass der neue »Zoom«-Boom diesen Trend brechen wird. Und gerade was Berlin angeht, haben wir es mit der komischen Situation zu tun, dass es sich fast um eine Schlafstadt handelt. Berlin zieht ein bestimmtes Milieu an, das gern hier lebt, aber zum Arbeiten nach draußen pendelt: nach Hamburg, Leipzig, Frankfurt. Das können Sie am Zugfahrplan ablesen. Die komplette Inversion einer klassischen Großstadt. Total verrückt.

BODENSCHATZ. Zumal wenn man sich vor Augen führt, dass hier in den Zwanzigerjahren noch die wichtigen Banken und Konzerne ansässig waren. Alle weg! Das gibt es so in keiner Hauptstadt oder zentralen Großstadt eines anderen Landes. Eine enorme Besonderheit, die natürlich mit der Geschichte zu tun hat, und die gerne zugedeckelt wird mit dem Hinweis auf die derzeit guten Wachstumsraten. Klar, wenn man ganz unten anfängt, sind die Wachstumsraten automatisch eindrucksvoll.

Andererseits genießt Berlin heute weltweit eine ungeheure Popularität.

BODENSCHATZ. Nur bemerkt das in Deutschland keiner so richtig. Mich erinnert die Situation an Rom, das auch relativ spät Hauptstadt wurde und im eigenen Land bis heute nicht als führende Stadt anerkannt ist. Im Falle Berlins kommt ein sehr interessanter Gegensatz hinzu. Im Ausland wird die Stadt viel positiver gesehen als das Land, das sie repräsentiert. Das könnte eine unglaubliche Chance sein für Berlin – wenn man sie nutzen würde. Berlin als Botschafter für ein heiteres, tolerantes, protestfreudiges, antiautoritäres, nicht ganz so ordentliches Deutschland. Eigentlich eine Aufgabe der Öffentlichkeitsarbeit für den Staat wie die Stadt. Aber ein wenig ordentlicher dürfte Berlin schon sein.

 

Andere Artikel:

Meet our Authors: Edda Schlager

The German journalist was one of the few Westerners  to permanently report from Central Asia. Her architectural guide to the city of Almaty is a kind of farewell after 18 years in a region whose importance, she says, is still not understood. 


Text: Björn Rosen
Photo: Edda Schlager in front of a Soviet-era mosaic in Almaty. The German ­journalist reported from Kazakhstan, Kyrgyzstan, Tajikistan, Turkmenistan, and Uzbekistan. Two research trips also took her to Afghanistan. © Amina Shyryntai

 

An incredible amount has changed in Kazakhstan since 2005 when Edda Schlager first visited Almaty, the former capital and still the country’s largest city. ‘First and foremost, digitalisation,’ she says. ‘In the beginning I still had to use a modem; now there’s reliable internet access via telephone at ridiculously low prices, and dealing with the authorities can be done efficiently online, much faster than I’m used to in Germany.’ Then the journalist immediately qualifies: ‘Of course, the network is also switched off quickly during anti-government protests.’

Edda Schlager has reported from Central Asia for newspapers and radio stations for almost 20 years, including the Swiss SRF, Radio Free Europe, and Al Jazeera. This makes her one of only a handful of Western journalists who have worked permanently in the region, which spans two time zones and consists of five countries with a total of 65 million inhabitants.

Schlager studied geography in Berlin, but always had her sights set on becoming a journalist. Having grown up in the former communist East Germany, she had learned some Russian at school and therefore dared to take an internship at Almaty’s Deutsche Allgemeine Zeitung, the mouthpiece of the German minority, which had been forcibly deported to Central Asia under Stalin. Russian is still the lingua franca in the region, even if the language’s importance has been even more rapidly declining since the war in Ukraine. Schlager was so fascinated that she stayed on after her six months at the newspaper. She describes the region as a ‘hinge between Orient and Occident’, a place where influences and interests from Europe, Russia, the Gulf States, South Asia, and China come together. However, there is still hardly any awareness of this in the West, she says. During the attempted overthrow of the government in 2022, Schlager was a highly sought-after correspondent for a fortnight. After that, interest died down again immediately. This experience contributed to her decision to return to Berlin, where she now works for the federal marketing agency ‘Germany Trade and Invest’.

In her first architectural guide, published in 2017, she presented the Tajik capital of Dushanbe. ‘Unfortunately, many beautiful old buildings in the city have been demolished since then.’ The guide to Almaty, which is now being published, has a different significance for her. The Kazakh city was always her base for travelling and conducting research. And so the book, which also contains many interviews, has become quite personal. ‘Almaty is beautifully situated at the foot of the mountains and offers a fascinating mix with its mosques, Soviet buildings, and brand-new skyscrapers,’ she says. ‘But the fact that I felt so at home there was also due to the recognition I earned as a reporter for my long-term commitment.’

View of the Almaty skyline. © Edda Schlager

In progress: A book on sustainable urban transformation

The world is facing an escalating climate crisis and rapid urbanisation intensifying pressure on infrastructure, resources, and the environment. In autumn 2025, DOM publishers will release a book that explores how sustainable urban transformation can be achieved through global collaboration, innovative research, and a focus on impact on the ground.


Photo: Urban intervention in Phnom Penh, 2022. © Stefanie Slawski

 

According to UN-Habitat, by 2050 around 70 per cent of the world’s population – some 6.7 billion people – will be living in cities, putting enormous pressure on infrastructure, resources, and the environment. The question is no longer whether cities and their regions must change, but how they can do so effectively and impactful to really achieve the necessary change.    

The upcoming book Navigating Urban Development, which will be published by DOM in autumn 2025, explores how sustainable urban transformation can be achieved through global collaboration, innovative research, and a focus on impact on the ground. Drawing from ten research projects across East and Southeast Asia - Cambodia, China, Laos, the Philippines, Thailand, and Vietnam - , it offers insights into how diverse actors are co-creating solutions for more resilient, inclusive urban futures.    

At the heart of the book is the REframe framework, an impact-oriented monitoring approach that encourages a new way of working and understanding impact. Combining long-term goals (References) with adaptive learning (Reflection), REframe offers a practical tool for navigating complexity and fostering lasting change. Linking theory and practice, Navigating Urban Development offers both conceptual grounding, case studies and hands-on tools for those working toward sustainable, inclusive, and resilient urban transformation.    

The book was compiled as a result of the SURE Facilitation & Synthesis research project funded by the German Federal Ministry of Research, Technology and Space as part of the Sustainable Development of Urban Regions (SURE) funding priority.  

The book's editors:

Vivienne Mayer is an urbanist and researcher passionate about socio-ecological restoration, community-driven climate adaptation, and regenerative urban systems. She holds a Master’s in Integrated Urbanism and Sustainable Design and is currently a research associate at TH Lübeck, University of Applied Sciences, working on sustainable urban development in Southeast Asia. Her experience ranges from teaching in international workshops to applied fieldwork, including contributing to an integrated waste management strategy for informal settlements in Cape Town. 

Anika Slawski is an urban planner who holds a Master's in Urban Design and is a research associate at TH Lübeck, University of Applied Sciences. Her work spans teaching and a broad range of research projects, from regional development in the German-Danish border region to international initiatives in sustainable urban development. Her doctoral research focuses on placemaking—the appropriation and design of spaces by people—with an emphasis on rapidly growing cities in Southeast Asia. Beyond academia, she acts as a board member of the non-profit organisation ArchitekturForumLübeck e.V. 

Frank Schwartze is an urban planner and since 2013 a professor for urbanism and planning at the TH Lübeck, University of Applied Science. His focus is on strategic planning and forms and processes of sustainable urban development. After his studies in Berlin and Venice he obtained an European Postgraduate Diploma in France. As a practitioner he is engaged in urban planning and consultancy for municipalities and regions in Germany and as well for international development agencies. He has led several urban research projects on urban development and sustainable transformation in Germany, Europe and Asia.

Strengthening climate resilience in Central Vietnam trough nature-based solutions: Vertical green elements will create a shady and cool public space for school children and residents on hot days. © GCLH

NEU: "Städtebau im Nationalsozialismus" / NEW: "Urban Planning in Nazi Germany"

Zu 80 Jahren Kriegsende ist bei DOM publishers das Buch Städtebau im Nationalsozialismus erschienen – der erste umfassende Überblick zum Thema aus paneuropäischer Perspektive. / 80 years since the end of the war:  To mark this anniversary, DOM publishers has released the book Urban Planning in Nazi Germany - it's the first comprehensive overview from a pan-European perspective.

 

Photo: Fritz Todt - Kopf der nach ihm benannten militärisch organisierten Bautruppe - vor der Staumauer des Wasserkraftwerks am Dnjepr in der Ukraine, wohl 1941. / Fritz Todt - head of the militarily organized construction group named after him - in front of the dam wall of the hydroelectric power plant on the Dnieper in the Ukraine, probably in 1941. © Schönleben 1943, S.104. 

 

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BUCHPRÄSENTATIONEN / BOOK PRESENTATIONS

Grau= Nur mit Anmeldung / Gray= Registration required

 

16. Oktober / 16 October – 18:00

Fritz-Schumacher-Gesellschaft, Warburg-Haus (Hamburg)

 

23. Oktober / 23 October – 18:00

Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände (Nürnberg/Nuremberg)

Infos: klick/click

 

04. November / 04 November – 18:00

Technische Universität (Dortmund)

 

05. November / 05 November – 18:00

Historisches Museum (Frankfurt am Main/Frankfurt)

 

11. November / 11 November – 18:30

Städtebau-Institut, Universität Stuttgart (Stuttgart)

 

26. März 2026 / 26 March 2026 – 18:00

NS-Dokumentationszentrum/Architekturmuseum (München/Munich)

 

DEUTSCH (GERMAN)  Am 08. Mai 2025 jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa zum 80. Mal. Anlässlich des Jahrestags ist bei DOM publishers das Buch Städtebau im Nationalsozialismus erschienen, ein mehr als 600 Seiten starker, umfassender Überblick zum Thema. 

Städtebau war ein wesentliches Instrument der nationalsozialistischen Diktatur. Er diente der Legitimation von Herrschaft und der Demonstration von Stärke, er begleitete Aufrüstung und Krieg, er vermittelte das gesellschaftspolitische Programm, er war ein Medium der Konkurrenz mit anderen Staaten, er band alte wie neue Fachleute an das Regime und grenzte systematisch Bevölkerungsgruppen aus.  

In Städtebau im Nationalsozialismus wird der Städtebau der NS-Diktatur erstmals nicht nur in seiner außerordentlichen Dynamik, sondern auch im Kontext anderer europäischer Diktaturen jener Zeit betrachtet. Denn zwischen 1933 und 1945 wechselten mehrmals die großen Themen des Städtebaus, die wichtigsten Akteure, die Inhalte der Propaganda, die betroffenen Städte und Gebietstypen, die Programme und Praktiken, die Gewinner und Verlierer. So entsteht ein vielschichtiges Bild, das über die übliche Darstellung bekannter Repräsentationsbauten hinausgeht und auch zentrale Aspekte wie Wohnungsbau, Altstadterneuerung, Innere Kolonisation, Bauten der Aufrüstung sowie die Anlage von großräumiger Infrastruktur, Industriegebieten, Erziehungsanstalten und Lagern berücksichtigt.

Weitere Details zum Buchprojekt: klick.

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ENGLISH (ENGLISCH)  8 May 2025 marks the 80th anniversary of the end of the Second World War in Europe. To mark this anniversary, DOM publishers has released the book Urban Planning in Nazi Germany, a more than 600-page comprehensive overview of the topic.

Urban planning was an essential instrument of the National Socialist dictatorship. It served to legitimize rule and demonstrate strength, accompanied rearmament and war, conveyed the socio-political program, was a medium of competition with other states, tied old and new professionals to the regime, and systematically marginalized population groups.

In this book urban planning under the Nazi dictatorship is for the first time examined not only as something that evolved during the different periods of Nazi rule but also in the context of other European dictatorships of the time. 

For more details on the book project: click.

A Short Stopover in Kyoto

Are you planning a visit to Expo 2025 in Osaka? Then you should definitely make a detour to Kyoto. As a young architect, Botond Bognar, author of our Architectural Guide Japan (available now in an updated version), learned Japanese in the ancient capital in the 1970s. Now he returns every year to enjoy pan-fried tofu and views from the Moon Crossing Bridge.

 


Text: Botond Bognar
Photo:  Fushimi Inari-taisha. The shrine sits at the base of a mountain, also named Inari. © Platongkoh | Dreamstime

 


Kyoto is a cosmopolitan city with outstanding works of contemporary architecture. But the city stands out first and foremost as a cradle of Japanese culture, with an exceptional mix of Buddhist temples, Shinto shrines, and traditional urban districts embedded in nature. Kyoto is a human-scale city, best discovered by walking. I visited the city for the first time as a young architect in early 1973, when I settled in a suburb of Kyoto to study Japanese before starting a two-year research fellowship at the Tokyo Institute of Technology. I still visit Japan two or three times a year and always spend time in this favourite city of mine.

Eat. Pontocho, close to the city centre, is a narrow alley, 2 metres wide and 500 metres long. It runs parallel to the Kamo river and is lined on both sides by charming old buildings, which house small, traditional restaurants, pubs, and bars. The wooden buildings along the east side of the lane look onto the river below, and large terraces are set up high over the riverbank from late spring to early autumn. Here, you can enjoy the taste of authentic Kyoto cuisine, a snack, or a refreshing drink, while taking in the panoramic views of the river and east side of Kyoto. I have fond memories of sitting on those ­terraces, often enjoying pan-fried tofu, in the late afternoons. Walk a few metres from the northern end of Pontocho, and you arrive at TIME’S (Sanjo Dori), a small, commercial building designed by Tadao Ando. It features an inviting restaurant-­cum-café, hugging the Takase stream. Its terrace often gave me the perfect respite after a busy day.

Pray. Kyoto is a treasure trove of Japan’s historic architecture. I would single out the Shisen-do Villa (27 Ichijoji Kadoguchi-cho), which was once the residence of the poet Ishikawa Jozan (1583–1672). It is now used as a Soto Zen temple and is one of the most impressive examples of seventeenth-century villas in Kyoto. Visitors should also visit the Kiyomizu-dera (294 Kiyomizu), a Buddhist temple and UNESCO World Heritage Site, situated on the slopes of the Higashiyama mountain range in the east of the city. The temple, dating back to the eighth century, sits on a massive wooden sub-structure, with a large terrace offering breath-taking views of the city.

Love. Arashiyama, a district on the western outskirts of the city, is particularly rich in nature. Its Bamboo Forest is a popular retreat among tourists and locals alike, and the Togetsukyo Bridge offers a stunning view of cherry blossoms in the spring. Also located in the district is the new Fukada Art Museum (3–16 Susukino Baba-cho), whose café overlooks a beautiful Japanese garden, with the landscape and river behind it. To enjoy Kyoto at its best, you should plan a visit for either spring or autumn. This is when the nature in and around Kyoto is most intoxicating, with the cherry blossoms in full bloom or the leaves of the Japanese maple trees turning into myriad shades of flaming reds and oranges.

  

BOTOND BOGNAR is the author of our Architectural Guide Japan (available now in an updated version). He is a licensed architect and internationally respected scholar of Japanese architecture and urbanism with over 20 published books. He is currently Professor and Edgar A. Tafel Endowed Chair in Architecture at the University of Illinois Urbana Champaign. He lived in Japan for many years in the 1970s and still frequently visits the country.

Im Porträt: Übersetzer und Lektor John Nicolson

Nichts war geplant, alles hat sich ergeben: Ein Auto für 300 Pfund brachte ihn 1991 nach Leningrad, ein unverhoffter Anruf 20 Jahre später nach Berlin. Sein Feingefühl für unterschiedliche Sprachen hat Nicolson gewissermaßen unterwegs entwickelt.

 

Text: Björn Rosen
Photo: John Nicolson im Berliner Verlagshaus. Er stützt sich auf einige der Bücher, die er für DOM bearbeitet hat, darunter die Architekturführer zu Alexandria, Dhaka und Kyjiw sowie Grundlagen-Titel zur Ukraine. © Philipp Meuser

 

Vermutlich profitiert er bis heute von seinem klassisch britischen Bildungsweg. Aufgewachsen in zwei Dörfern im Südwesten Englands, in denen »nichts je passiert«, kam John Nicolson mit elf Jahren aufs Internat im nahen Winchester. »Wir waren in einem Gebäude aus dem 15. Jahrhundert untergebracht, zum Teil unbeheizt, aber sehr schön.« Im darauf folgenden Jahr begann der Altgriechisch-Unterricht. »Man bekam einen Text voller Wörter, die man noch nie zuvor gesehen hatte – Poesie, die obskur wirkte –,  und musste dann die Bedeutung herausfinden«, erzählt Nicolson. »Wie bei einem Kreuzworträtsel.« 

Fast 50 Jahre später macht der Brite im Grunde noch immer das Gleiche. Statt antiker Gedichte fordern ihn  nun andere obskure Texte heraus. Wie zum Beispiel überträgt man das »transluzente, PTFE-verkleidete  Leichtbausystem« ins Englische, das in Zusammenhang mit einem Projekt in China im Handbuch Aquarienbauten erwähnt wird? Und was hat es mit der »Qa’a mit vier Iwanen« auf sich, »die als Adaption des traditionellen Wohntypus von Kairo gelesen werden kann oder,  was wahrscheinlicher ist, als europäisierter Import des osmanischen Hallengrundrisses«, wie es im Architekturführer über Ägyptens Hauptstadt heißt? Seit mehr als 30 Jahren übersetzt und lektoriert Nicolson Texte über Architektur, seit rund fünf Jahren arbeitet er regelmäßig für DOM publishers.

 

Von John Nicolson bearbeitet:
Aquarium Buildings
Edited by Jürgen Lange and Natascha Meuser, 464 pages, 900 images, Hardcover with elastic strap, ISBN 978-3-86922-756-6, 128€.
The aim of this publication is to provide architects and their clients, zoologists and operators of large aquariums, with planning parameters and quality criteria to help them in designing a sustainable aquarium.

 

Zuletzt war er für das Buch Mies in His Own Words verantwortlich, das alle Schriften, Reden und Interviews des deutsch-amerikanischen Architekten versammelt. Herausgegeben von den Experten Michelangelo Sabatino aus den USA und Vittorio Pizzigoni aus Italien, richtet es sich an ein internationales Publikum: Einige deutsche Texte Mies van der Rohes übersetzte Nicolson neu und prüfte bereits vorhandene Übersetzungen – eine Herausforderung, denn jeder Formulierung des notorisch wortkargen Mies wird unter Architekturhistorikern größte Bedeutung beigemessen. »Ich musste mich zurückhalten, Formulierungen zu  stark zu glätten«, sagt Nicolson. Sein erklärtes Ziel war es, den »flavour of Mies« zu erhalten.

Nicolson spricht Russisch, außerdem Deutsch, Französisch, Spanisch und Italienisch (wenngleich er eine bescheidenere  Einschätzung abgeben würde, sollten Sie  ihn einmal danach fragen). An die Schulzeit schloss sich zunächst ein Studium von Altgriechisch, Latein und Philosophie in Oxford an. Dass Nicolson  heute ein polyglot ist, liegt an den vielen Zufällen, die darauf folgten.

Es begann 1989 damit, dass Gabriel, Mitbewohner in der Londoner WG, eine Anzeige im Guardian entdeckte: Wer könnte russische Künstler kostenlos unterbringen? Zwar wurde daraus erst einmal nichts, und Gabriel schaffte es auch nicht zur Vernissage, in die man ihn einlud. Aber John nahm den Termin wahr und begegnete dabei der Übersetzerin aus Wolgograd, die die  Künstler begleitete. Ein bleibender Eindruck: Irina wurde später Nicolsons Frau. 

Als das Paar etwas Geld zusammengespart hatte – er arbeitete  als Nachtwächter, sie als Kellnerin –, kaufte es ein Auto für 300 Pfund, um Russland zu besuchen. Dort erlebte Nicolson 1991 die letzten Wochen der Sowjetunion  – und blieb schließlich fast 20 Jahre in Leningrad, das nun wieder Sankt Petersburg hieß. Er lernte die  Sprache, vertiefte sich in russische Literatur (die Thema  seiner Doktorarbeit wurde) und nahm bald erste Aufträge  als Übersetzer an, immer häufiger aus dem Bereich  Architektur. »Einen Job im eigentlichen Sinne hatte ich nie.« Nichts war geplant, alles hat sich ergeben.

Im Jahr 2009 verschlug es die Familie nach Deutschland. Sie hatten sich nach einem Tapetenwechsel gesehnt und ein paar europäische Länder besucht. Die Aufnahmeprüfung der ältesten Tochter in Berlin war zwar schon wieder vergessen, als Monate später das Telefon in Sankt Petersburg klingelte und die Schule an den Beginn des Unterrichts (in fünf Tagen!) erinnerte, doch die Entscheidung dafür umso schneller gefällt.  Wenn John Nicolson von seiner Schöneberger Wohnung erzählt, beschreibt er den Einfall des Lichts und den  Blick durchs Fenster – essenzielle Punkte. Denn während ihn Texte nach China, Ägypten, Montréal und Kyjiw führen, sitzt er doch immer am selben Schreibtisch.

 

Von John Nicolson bearbeitet:
Mies in His Own Words
Edited by Vittorio Pizzigoni and Michelangelo Sabatino, 304 Seiten, 18 Abb., Softcover, ISBN 978-3-86922-307-0, 48€.
Schriften, Reden, Interviews – diese umfassende Kollektion zeigt die erstaunliche Bandbreite von Mies van der Rohes Engagement für Architektur und Bildung in Deutschland und den USA.

A German in Ethiopia

 

Piet Nieder, lecturer at the TU Berlin,  has a long-lasting admiration for the East African country: from his first visit as a student to two years as a university lecturer right through to the research for his doctoral thesis that has now resulted in his book, The Addis Ababa House (currently no longer available through our webshop).


Text: Damien Leaf
Photo: Nieder with architect and photographer Henock Ashagre (left) and Tadesse Girmay, conservationist and researcher at EiABC. © Piet Nieder

 

When Piet Nieder co-organised a symposium at the Goethe Institute in the Ethiopian capital in March, it was the culmination of several years of work on the cultural heritage of Addis Ababa. The German first came to the country in 2005 as an architecture student and tourist. His interest was piqued. ‘I believe that architecture is particularly relevant in a developing country like Ethiopia, where it can still be a social game changer,’ says the 43-year-old.

In 2012, Nieder moved to Addis Ababa as a lecturer at the local institute for Architecture (EiABC). As part of his doctoral thesis, he became aware of the typology at the centre of his recently published book. The Addis Ababa House (currently no longer available in our webshop, but only through retailers) introduces a very specific form of architecture that emerged in the Ethiopian capital after its foundation in 1886: pavilion-like buildings, made of stone, earth, and wood, characterised by expressive pinched roofs, generous verandas, and a high degree of detailing. ‘At that time, two things came together that are reflected in the building’s design: an indigenous city foundation and a new cosmopolitan spirit, because people from all over the world moved to Addis Ababa after Ethiopia was internationally recognised as a sovereign African state.’

Nieder conducted interviews on the ground, but he was particularly impressed by the amount of material that reached him online from Addis Ababa after an appeal via social media. ‘I see it as an obligation to make my findings accessible in Ethiopia, as well.’ This, he hopes, can also help to preserve the unique heritage. Of the 170 buildings in the style recorded in a database, many have already been destroyed.

Office Building of the Minister of Defence. © Rumi Ozaki