Nichts war geplant, alles hat sich ergeben: Ein Auto fĂŒr 300 Pfund brachte ihn 1991 nach Leningrad, ein unverhoffter Anruf 20 Jahre spĂ€ter nach Berlin. Sein FeingefĂŒhl fĂŒr unterschiedliche Sprachen hat Nicolson gewissermaĂen unterwegs entwickelt.
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Text: Björn Rosen
Photo: John Nicolson im Berliner Verlagshaus. Er stĂŒtzt sich auf einige der BĂŒcher, die er fĂŒr DOM bearbeitet hat, darunter die ArchitekturfĂŒhrer zu Alexandria, Dhaka und Kyjiw sowie Grundlagen-Titel zur Ukraine. © Philipp Meuser
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Vermutlich profitiert er bis heute von seinem klassisch britischen Bildungsweg. Aufgewachsen in zwei Dörfern im SuÌdwesten Englands, in denen »nichts je passiert«, kam John Nicolson mit elf Jahren aufs Internat im nahen Winchester. »Wir waren in einem GebĂ€ude aus dem 15. Jahrhundert untergebracht, zum Teil unbeheizt, aber sehr schön.« Im darauf folgenden Jahr begann der Altgriechisch-Unterricht. »Man bekam einen Text voller Wörter, die man noch nie zuvor gesehen hatte â Poesie, die obskur wirkte â, und musste dann die Bedeutung herausfinden«, erzĂ€hlt Nicolson. »Wie bei einem KreuzwortrĂ€tsel.«Â
Fast 50 Jahre spĂ€ter macht der Brite im Grunde noch immer das Gleiche. Statt antiker Gedichte fordern ihn nun andere obskure Texte heraus. Wie zum Beispiel uÌbertrĂ€gt man das »transluzente, PTFE-verkleidete Leichtbausystem« ins Englische, das in Zusammenhang mit einem Projekt in China im Handbuch Aquarienbauten erwĂ€hnt wird? Und was hat es mit der »Qaâa mit vier Iwanen« auf sich, »die als Adaption des traditionellen Wohntypus von Kairo gelesen werden kann oder, was wahrscheinlicher ist, als europĂ€isierter Import des osmanischen Hallengrundrisses«, wie es im ArchitekturfuÌhrer uÌber Ăgyptens Hauptstadt heiĂt? Seit mehr als 30 Jahren uÌbersetzt und lektoriert Nicolson Texte uÌber Architektur, seit rund fuÌnf Jahren arbeitet er regelmĂ€Ăig fuÌr DOM publishers.
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Von John Nicolson bearbeitet:
Edited by JĂŒrgen Lange and Natascha Meuser, 464 pages, 900 images, Hardcover with elastic strap, ISBN 978-3-86922-756-6, 128âŹ.
The aim of this publication is to provide architects and their clients, zoologists and operators of large aquariums, with planning parameters and quality criteria to help them in designing a sustainable aquarium.
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Zuletzt war er fuÌr das Buch Mies in His Own Words verantwortlich, das alle Schriften, Reden und Interviews des deutsch-amerikanischen Architekten versammelt. Herausgegeben von den Experten Michelangelo Sabatino aus den USA und Vittorio Pizzigoni aus Italien, richtet es sich an ein internationales Publikum: Einige deutsche Texte Mies van der Rohes uÌbersetzte Nicolson neu und pruÌfte bereits vorhandene Ăbersetzungen â eine Herausforderung, denn jeder Formulierung des notorisch wortkargen Mies wird unter Architekturhistorikern gröĂte Bedeutung beigemessen. »Ich musste mich zuruÌckhalten, Formulierungen zu stark zu glĂ€tten«, sagt Nicolson. Sein erklĂ€rtes Ziel war es, den »flavour of Mies« zu erhalten.
Nicolson spricht Russisch, auĂerdem Deutsch, Französisch, Spanisch und Italienisch (wenngleich er eine bescheidenere EinschĂ€tzung abgeben wuÌrde, sollten Sie ihn einmal danach fragen). An die Schulzeit schloss sich zunĂ€chst ein Studium von Altgriechisch, Latein und Philosophie in Oxford an. Dass Nicolson heute ein polyglot ist, liegt an den vielen ZufĂ€llen, die darauf folgten.
Es begann 1989 damit, dass Gabriel, Mitbewohner in der Londoner WG, eine Anzeige im Guardian entdeckte: Wer könnte russische KuÌnstler kostenlos unterbringen? Zwar wurde daraus erst einmal nichts, und Gabriel schaffte es auch nicht zur Vernissage, in die man ihn einlud. Aber John nahm den Termin wahr und begegnete dabei der Ăbersetzerin aus Wolgograd, die die KuÌnstler begleitete. Ein bleibender Eindruck: Irina wurde spĂ€ter Nicolsons Frau.Â
Als das Paar etwas Geld zusammengespart hatte â er arbeitete als NachtwĂ€chter, sie als Kellnerin â, kaufte es ein Auto fuÌr 300 Pfund, um Russland zu besuchen. Dort erlebte Nicolson 1991 die letzten Wochen der Sowjetunion â und blieb schlieĂlich fast 20 Jahre in Leningrad, das nun wieder Sankt Petersburg hieĂ. Er lernte die Sprache, vertiefte sich in russische Literatur (die Thema seiner Doktorarbeit wurde) und nahm bald erste AuftrĂ€ge als Ăbersetzer an, immer hĂ€ufiger aus dem Bereich Architektur. »Einen Job im eigentlichen Sinne hatte ich nie.« Nichts war geplant, alles hat sich ergeben.
Im Jahr 2009 verschlug es die Familie nach Deutschland. Sie hatten sich nach einem Tapetenwechsel gesehnt und ein paar europĂ€ische LĂ€nder besucht. Die AufnahmepruÌfung der Ă€ltesten Tochter in Berlin war zwar schon wieder vergessen, als Monate spĂ€ter das Telefon in Sankt Petersburg klingelte und die Schule an den Beginn des Unterrichts (in fuÌnf Tagen!) erinnerte, doch die Entscheidung dafuÌr umso schneller gefĂ€llt. Wenn John Nicolson von seiner Schöneberger Wohnung erzĂ€hlt, beschreibt er den Einfall des Lichts und den Blick durchs Fenster â essenzielle Punkte. Denn wĂ€hrend ihn Texte nach China, Ăgypten, MontrĂ©al und Kyjiw fuÌhren, sitzt er doch immer am selben Schreibtisch.
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Von John Nicolson bearbeitet:
Edited by Vittorio Pizzigoni and Michelangelo Sabatino, 304 Seiten, 18 Abb., Softcover, ISBN 978-3-86922-307-0, 48âŹ.
Schriften, Reden, Interviews â diese umfassende Kollektion zeigt die erstaunliche Bandbreite von Mies van der Rohes Engagement fuÌr Architektur und Bildung in Deutschland und den USA.